Jetzt zeigt sich, wie fragil gigantische Träume wirklich sind.
Seit Jahren steht Neom für Tempo, Technik und Prestige. Doch der Glanz bröckelt. Riad bremst, Projekte wackeln, Fristen rutschen – und die Rechnung fällt hoch aus.
Was hinter dem plötzlichen Bremsmanöver steckt
Saudi-Arabiens Public Investment Fund (PIF) hat die Arbeiten an „The Line“ und am Luxusresort Magna laut Medienberichten Mitte September gestoppt. Offiziell schweigt Riad. In Projektkreisen kursieren vertraute Gründe: Kostenexplosion, komplexe Lieferketten, Fachkräftemangel und ein zu ambitionierter Zeitplan. Die Baustelle in der Wüste läuft nicht mehr wie geplant.
„The Line“ sollte das Herz von Neom werden. Eine schnurgerade Stadt, 170 Kilometer lang, 500 Meter hoch, angetrieben von grüner Energie und Hightech-Logistik. Die Idee: null Autos, null Straßen, null Emissionen. Die Realität: Baufortschritte bleiben punktuell, Module stauen sich, Ausschreibungen werden neu verhandelt.
Der Baustopp lässt ein Loch in der Planung: The Line pausiert, Magna pausiert – der Zeitplan rutscht, das Risiko steigt.
Die Rechnung: woher die nahezu 40 Milliarden kommen
Im Raum steht ein Verlust in Milliardenhöhe. Schätzungen sprechen von fast 40 Milliarden, die bereits gebunden, verbaut oder vorfinanziert sind. Ein Teil lässt sich retten, ein Teil nicht. Vor allem Vorleistungen und Vertragsbindungen treiben die Summe.
- Vorleistungen für Straßen, Strom, Wasser, Datenleitungen
- Landaufschließung, Logistik, temporäre Camps und Häfen
- Stahl- und Glasbestellungen, modulare Fertigteile
- Planung, Engineering, digitale Zwillinge, Genehmigungen
- Kosten für pausierte Verträge, mögliche Vertragsstrafen
Die Projektarchitektur addiert weitere Risiken. Viele Aufträge laufen über internationale Konsortien, häufig mit festen Meilensteinen. Pausen erzeugen Reibung, Nachträge und Sicherheitenforderungen. Je länger die Unterbrechung, desto teurer der Neustart.
| Projekt | Ursprüngliches Ziel | Aktueller Stand | Nächster Meilenstein |
|---|---|---|---|
| The Line (Neom) | Lineare Stadt, 170 km, emissionsarm | Teilstopp, Fokusprüfung auf erste Segmente | Entscheidung über Skalierung und Phasenstart |
| Magna | Luxusresort am Roten Meer | Pausiert, Neuordnung der Pakete | Überarbeitung von Kosten und Bauzeit |
| Red Sea-Projekte | Premiumtourismus, Nachhaltigkeit | Teilweise in Betrieb, weitere Etappen verlangsamt | Finanzierungsmix und Umsetzungsreihenfolge |
| Qiddiya | Freizeit- und Sportdestination | Weiterbau mit Priorisierung einzelner Assets | Selektiver Roll-out statt Vollausbau |
Was das für die Wm 2034 bedeutet
„The Line“ sollte ein WM-Stadion beherbergen. Die Pause gefährdet die enge Taktung. Saudi-Arabien sondiert Alternativen und prüft bestehende Standorte. Stadien lassen sich theoretisch schneller als ganze Städte bauen. Was fehlt, ist die Infrastruktur drumherum: Verkehr, Sicherheit, Hotels, IT. Jeder Monat Verzögerung verengt das Fenster.
Ohne Klarheit bei The Line muss die WM-Planung dezentral werden. Das steigert Kosten, senkt Planbarkeit und erhöht Risiken.
Menschenrechte, Räumungen und Reputationsrisiken
Neom stand von Beginn an in der Kritik. Menschenrechtsorganisationen berichten von Zwangsumsiedlungen lokaler Gemeinschaften, darunter Huwaitat-Stämme. Beobachter melden schwere Arbeitsunfälle und fehlende Standards auf Baustellen. Riad weist diese Vorwürfe zurück. Der Baustopp verändert die Debatte. Prüfprozesse rücken nach vorn, ESG-Ratings wackeln, Aufträge werden neu bewertet. Internationale Partner verlangen verlässliche Audits, Schutzkonzepte und Whistleblower-Kanäle.
Reputation ist ein knapper Rohstoff. Ein Imagewechsel kostet Zeit und Geld. Wer jetzt neu kalkuliert, braucht klare Leitplanken: transparente Lieferketten, Arbeitsschutz nach internationalen Normen und lokale Partizipation. Sonst drohen weitere Verzögerungen durch Einsprüche und Rechtsstreitigkeiten.
Signal für die Ökonomie
Vision 2030 lebt vom Umbau weg vom Öl. PIF ist der Motor, finanziert durch Anleihen, Asset-Verkäufe und Dividenden. Der Baustopp wirkt wie eine Zinsbremse: Cash bleibt im System, Kapitalkosten sinken. Gleichzeitig verlieren teure Vorleistungen an Wert. Für den Haushalt bedeutet das eine heikle Balance zwischen Investition und Konsolidierung. Der Staat braucht Wachstum abseits von Öl, doch zu viel Tempo erzeugt Ineffizienzen.
Wie es weitergehen könnte
Es gibt mehrere Pfade zurück in die Spur. Jeder Pfad verlangt Disziplin und Prioritäten. Die Größe des Plans bleibt, der Weg dorthin ändert sich.
- Phasenmodell: Konzentration auf 2–5 Kilometer funktionsfähige Stadt mit Bahn, Energie, Wohnen, Arbeit. Erst dann expandieren.
- Kostenkurve senken: Standardisierte Module, lokale Lieferketten, klare Spezifikationen, weniger Sonderlösungen.
- Finanzmix justieren: Mehr Partnerschaften mit Pensionsfonds, Versicherern, Family Offices. Einnahmen aus Teilbetrieb reinvestieren.
Phasen statt Perfektion. Ein kleiner, funktionierender Abschnitt schafft Vertrauen – und öffnet wieder Kapitalquellen.
Was Investoren jetzt prüfen sollten
Wer bereits engagiert ist, braucht Sicht auf Cashflows und Sicherheiten. Wer neu einsteigt, verlangt adaptive Meilensteine. Wichtige Punkte sind: Zahlpläne an erreichbare Bauzustände koppeln, Preisgleitklauseln präzise fassen, lokale Content-Vorgaben früh klären, Währungsrisiken absichern und ESG-Standards vertraglich bindend machen. Ohne robuste Exit-Optionen drohen Lock-in-Effekte.
Konkrete Hinweise für Branchen und Beschäftigte
Baufirmen sollten jetzt Ressourcen umschichten und Kerngewerke schützen. Planer prüfen BIM-Modelle auf schnelle Skalierbarkeit. Logistiker sichern Lager und Zwischenverträge, um Leerstandskosten zu begrenzen. Beschäftigte vor Ort brauchen transparente Kommunikation, Schulungen für neue Sicherheitsprotokolle und realistische Schichtpläne, damit Produktivität nicht weiter sinkt.
Für die Region am Roten Meer bleiben Chancen. Tourismus kommt in Wellen, auch mit kleineren Resorts. Klimaneutrale Energieprojekte wie grüner Wasserstoff besitzen Anschlussfähigkeit. Ein konzentrierter Startkorridor mit Bahn, Rechenzentrum und Wohnquartieren könnte Nachfrage binden und die Lieferkette stabilisieren.
Zusatzwissen: was der PIF eigentlich macht
Der Public Investment Fund ist Saudi-Arabiens Staatsfonds. Er hält Beteiligungen in Infrastruktur, Energie, Technologie, Tourismus und Sport. Er finanziert Gigaprojekte mit Eigenkapital, Anleihen und Partnerkapital. In Projektpausen verschiebt der Fonds Mittel in Anlagen mit schnellerer Rendite. Das schützt die Bilanz, kann aber Großprojekte ausbremsen.
Risiko-Check und einfache Simulation
Wer die Belastung überschlägig prüfen will, rechnet die monatlichen Fixkosten der Baustellen gegen die realen Baufortschritte. Sinkt der Fortschritt unter 60 Prozent des Plans, steigen die Gesamtkosten exponentiell. Eine Verschiebung um sechs Monate kann bei Megaprojekten 8–12 Prozent Mehrkosten produzieren. Bei einer Basis von 40 Milliarden entspricht das drei bis fünf Milliarden extra – ohne Preisänderungen am Markt.
Ein Vorteil der Pause liegt im Lernen. Daten über Bodendruck, Staub, Hitze, Wind und Montagezeiten liegen nun vor. Diese Daten erlauben bessere Taktung, passgenaue Materialien und robustere Konstruktionen. Wer sie klug nutzt, holt einen Teil der verlorenen Zeit zurück und reduziert teure Überraschungen beim Neustart.








