Viele Familien halten die Telefone an, obwohl sie nicht mehr klingeln.
Die Front verschiebt sich. Die Nachrichten bleiben aus. Was in Wäldern, Gräben und zerstörten Dörfern zurückbleibt, landet später in Stahlboxen und Kühlschränken. Dort beginnt die Arbeit der Forensiker – oft Monate nach dem letzten Lebenszeichen.
Wenn ein Versprechen in Stille endet
Eine junge Zahnärztin aus Kyjiw schreibt ihrem Mann jeden Tag. Er versprach, in wenigen Tagen zurück zu sein. Dann verstummte der Chat. Zuletzt wurde er nahe Pokrowsk gesehen, heute russisch besetzt. Seitdem fehlt jede Spur.
Sie lädt sein Handy-Guthaben weiterhin auf. Die Nummer soll nicht verschwinden. Es ist ein Halt, ein Ritual, eine leise Brücke über eine laute Front.
Vermisste sind für ihre Angehörigen nicht Abwesenheit, sondern tägliche Gegenwart: jede Nachricht, jede Liste, jede Probe zählt.
Ihr Weg führt durch Formulare, Behörden und digitale Gruppen. Sie gibt eine DNA-Referenz ab, damit Labore sie mit zurückgeführten Leichnamen abgleichen können. Diese Proben reisen oft schneller als Informationen. Antworten brauchen Zeit.
Was in den laboren passiert
Seit Beginn der großangelegten Invasion tauschen beide Seiten Gefangene und Leichname aus. In ukrainischen Laboren treffen in Wellen sterbliche Überreste ein. Allein in den letzten vier Monaten kamen mehr als 7.000 an. Jedes Paket steht für einen Menschen, der einen Namen braucht.
Über 7.000 Leichname in vier Monaten – hinter jeder Nummer stecken Daten, Wege, Angehörige, Erwartungen.
Die Teams dokumentieren jeden Fund. Sie fotografieren, vermessen, sichern Kleidung und persönliche Gegenstände. Sie nehmen DNA-Proben. Anschließend folgt der Abgleich mit Referenzdaten aus Datenbanken und von Familien. Der Prozess kann dauern. Er scheitert, wenn Vergleichsproben fehlen oder der Körper stark zerstört ist.
So läuft eine identifizierung ab
- Bergung und Dokumentation am Fundort, inklusive GPS-Daten
- Transport in eine zertifizierte Einrichtung mit Kühlung
- Forensische Untersuchung: Autopsie, Zahnschema, Narben, Tätowierungen
- Biologische Proben: DNA aus Knochen, Zähnen oder Weichgewebe
- Datenabgleich mit Referenzprofilen von Angehörigen
- Finale Zuordnung durch die Staatsanwaltschaft und Benachrichtigung der Familie
Warum viele fälle stocken
Die Front produziert Fragmente statt Körper. Explosionen zerreißen Gewebe. Hitze, Wasser und Zeit erschweren jedes Profil. Ukrainische Stellen berichten, dass gelieferte Überreste oft unvollständig oder vermischt sind. Teilstücke einer Person können in mehreren Säcken liegen. Das verlängert die Arbeit und verletzt die Würde der Toten.
Eine Identifizierung scheitert selten an einem einzigen fehlenden Detail, sondern an einer Kette kleiner Lücken.
Dazu kommen logistische Engpässe: wenige Speziallabore, zu wenig Personal, zu viele Proben. Der Abgleich wächst, die Datenbanken auch. Wer heute eine Referenz abgibt, bekommt oft Monate später erst eine Nachricht.
Die unsichtbare statistik
Beide Seiten halten ihre Verlustzahlen weitgehend zurück. Klar ist: Seit 2022 starben und verwundeten sich Hunderttausende. In der Ukraine gelten mindestens 70.000 Menschen – Soldaten und Zivilisten – als vermisst. Hinter jeder Zahl steht eine Wohnung, in der das Licht noch brennt.
| Bereich | Zahl/Status |
|---|---|
| Leichname in ukrainischen Laboren (letzte 4 Monate) | über 7.000 |
| Vermisste Ukrainer (Soldaten und Zivilisten) | mindestens 70.000 |
| Herausforderung | Fragmentierte Überreste, lange DNA-Abgleiche |
Arbeit zwischen mikroskop und menschenwürde
Forensik ist nicht nur Labor. Sie umfasst auch Ethik: korrekte Bergung, klare Ketten der Beweissicherung, sensible Kommunikation. Mitarbeitende müssen schnell, sorgfältig und transparent arbeiten. Fehler belasten Familien jahrelang.
Neben DNA hilft die klassische Identifizierung: Zahnstatus, alte Verletzungen, Prothesen, Metallplatten, persönliche Gegenstände. Selbst Stoffmuster oder Schlamm im Stiefel geben Hinweise auf Einheiten und Orte. Wo DNA versagt, rettet manchmal ein alter Röntgenbefund die Zuordnung.
Was angehörige jetzt tun können
- Referenz-DNA über eine offizielle Stelle abgeben (Eltern, Kinder, Geschwister geeignet)
- Medizinische Unterlagen, Zahnkarten und Fotos geordneter an eine Ermittlungsstelle übergeben
- Datum, Ort und Einheit des letzten Kontakts schriftlich festhalten
- Digitale Konten sichern und Messenger-Chats nicht löschen
- Mit offiziellen Suchdiensten in Kontakt bleiben und Aktenzeichen notieren
- Psychosoziale Unterstützung annehmen, auch für Kinder
Warum jeder standard zählt
Einheitliche Formulare, standardisierte Proben, nachvollziehbare Lagerung: Diese Details entscheiden über Wochen oder Monate. Mobile DNA-Labore verkürzen Wege an der Front. Schulungen für Ersthelfer verhindern späteres Chaos in den Kühlkammern. Internationale Leitlinien – etwa aus der humanitären Forensik – stehen bereit. Sie helfen, wenn alle mitziehen.
Risiken und chancen der daten
DNA-Daten müssen geschützt werden. Zugriff, Zweckbindung und Löschung brauchen klare Regeln. Gleichzeitig erlaubt ein gut gepflegtes Register schnelle Treffer, auch Jahre später. Der Spagat gelingt, wenn Behörden transparent handeln und Angehörige mitreden.
Mehr wissen, besser handeln
Worte, die häufig fallen, verdienen Erklärung: „Referenzprobe“ meint DNA von Verwandten ersten Grades. „Postmortale Probe“ stammt aus dem Körper der unbekannten Person. Der „Match“ ist ein statistisch gesicherter Treffer, kein Bauchgefühl. Ohne Referenz gibt es auch den besten Match nicht.
Eine einfache Simulation zeigt die Hürde: Fünf Labore arbeiten parallel und schaffen täglich je 25 Proben. Bei 7.000 Fällen bräuchte allein der Erstabgleich über 50 Arbeitstage – ohne Wiederholungen, ohne Problemproben. Jede Fragmentierung, jede Verdünnung verlängert den Kalender.
Manche Familien entscheiden sich nach einer Frist für eine juristische Feststellung als „vermisst“. Das ermöglicht Renten oder Erbsachen. Es schließt die Suche nicht aus. Andere warten ohne diesen Schritt, weil Hoffnung ihre eigene Ordnung hat. Beide Wege sind legitim.








