Russlands Chefdiplomat Sergej Lawrow verschärft den Ton und rückt den Konflikt um die Ukraine rhetorisch auf eine neue Stufe. Seine Botschaft zielt auf Nato, EU – und explizit auf Deutschland.
Lawrow erhöht den Druck in New York
Auf der G20-Ministerrunde am Rand der UN-Generalversammlung erklärte Lawrow, die Nato und die EU hätten Russland de facto den Krieg erklärt. Er spricht von direkter Beteiligung westlicher Staaten an Angriffen auf russisches Territorium und kündigt „entschlossene“ Reaktionen gegen jede Aggression an. Gleichzeitig betont er, Russland plane keinen Erstschlag auf Nato-Länder.
„Echter Krieg“, „direkte Beteiligung“, „entschlossene Reaktion“: Moskaus Rhetorik zieht eine rote Linie – und lässt Deutungsspielraum.
Besonders scharf richtet Lawrow seine Worte gegen Berlin. Er attestiert der Bundesregierung einen „militaristischen“ Kurs und stellt historische Vergleiche zur NS-Zeit her. Diese Zuspitzung zielt offenkundig auf die innenpolitische Front in Deutschland, wo Rüstungslieferungen, Wehrpflicht-Debatten und Militärhaushalt die Agenda prägen. Solche Vergleiche dienen in Moskau seit Jahren als Instrument, um westliche Kohäsion zu schwächen und Entscheidungen zu verzögern.
Geheimgespräche, Drohnen und die Frage der Grenzlinien
Parallel zu den Auftritten in New York berichtet Bloomberg über ein vertrauliches Gespräch in Moskau. Demnach sahen russische Vertreter die jüngsten Drohnenflüge über Nato-Gebiet als Antwort auf ukrainische Angriffe auf die Krim. Ohne westliche Unterstützung, so die russische Lesart, seien diese Attacken nicht möglich gewesen. Aus dieser Kette leitet Moskau eine faktische Konfrontation mit Europa ab.
Europäische Gesandte signalisierten laut Insidern: Weitere Luftraumverletzungen werden abgewehrt – im Extremfall mit Abschüssen.
Die Episode fügt sich in eine Serie von Vorfällen: Drohnen über dänischen Militärbasen, Sichtungen an Flughäfen in Norwegen und Dänemark, Meldungen aus Schleswig-Holstein, russische Überflüge in der Ostsee nahe einer deutschen Fregatte sowie mehrfache Verletzungen von Lufträumen an Nato-Grenzen. Die Urheberschaft vieler Drohnenvorfälle bleibt ungeklärt. Das Risiko von Fehlinterpretationen steigt dennoch mit jeder Meldung.
Drohnen und Jets: die jüngsten Brennpunkte
| Datum | Ort | Ereignis | Status |
|---|---|---|---|
| 26.–28. Sep | Norwegen/Dänemark | Mehrere Drohnenmeldungen an Flughäfen und Militärstandorten | Herkunft unklar, Ermittlungen laufen |
| 25. Sep | Schleswig-Holstein | Mehrere Drohnensichtungen | Zuordnung offen, Sicherheitsbehörden prüfen |
| 24. Sep | Nordatlantik/Alaska-ADIZ | Russische Militärflugzeuge in Identifikationszone | Abgefangen, kein Eintritt in Hoheitsraum |
| 19.–20. Sep | Ostsee | Überflüge nahe deutscher Fregatte bei Nato-Manöver | Dokumentiert, diplomatisch adressiert |
| 9. Sep | Polen | Mehr als 20 russische Drohnen im Luftraum | Abwehrmaßnahmen, Lage unter Beobachtung |
Berlin im Fokus – und die Frage nach Reaktionen
In Deutschland fällt die Bewertung nüchtern aus. Verteidigungsminister Boris Pistorius sprach von einer „neuen Realität“ aus Desinformation, Drohnenaktivität und psychologischer Kriegsführung. Nicht Krieg, aber auch kein unverstellter Frieden mehr: Dieser Befund beschreibt den Raum zwischen offenem Konflikt und friedlicher Koexistenz, in dem Europa derzeit agiert.
Unionsvertreter fordern eine klare, besonnene Linie. Eskalation vermeiden, Wehrhaftigkeit zeigen, Bündnispartner eng einbinden – diese Trias bekommt nun operatives Gewicht. Besonders sensibel bleibt die Grenze zwischen Aufklärung, Abschreckung und tatsächlichem Waffeneinsatz. Ein Abschuss im Grenzbereich kann politisch geboten, militärisch korrekt – und dennoch riskant sein.
Was Behörden jetzt priorisieren
- Lückenlose Luftraumüberwachung mit schneller Identifizierung unkooperativer Luftfahrzeuge.
- Forensik nach Drohnenmeldungen, inklusive Radar- und Funkdatenabgleich.
- Schutz kritischer Infrastruktur an Küsten, Häfen, Energieanlagen und Flughäfen.
- Abstimmung mit Partnern über Schwellenwerte für Abwehrmaßnahmen.
- Strategische Kommunikation, um Verunsicherung und Desinformation zu begrenzen.
„Phase 0“, ADIZ und Kaliningrad: Begriffe, die jetzt Gewicht haben
Sicherheitsexperten sprechen bei solchen Gemengelagen von „Phase 0“. Gemeint ist die Vorphase eines militärischen Konflikts, in der Staaten das Umfeld formen: Aufklärung, psychologische Tests, Störung, Sabotage, asymmetrische Aktionen. Gelingt diese Phase, kann ein Gegner ohne formelle Kriegserklärung unter Druck geraten. Misslingt sie, entstehen Beweise und politische Kosten.
Ebenfalls zentral: die Luftverteidigungs-Identifikationszonen (ADIZ). Sie sind keine Hoheitsräume, sondern Sicherheitsgürtel. Militärjets, die dort auftauchen, werden identifiziert und begleitet. Solche Interaktionen sind Routine, aber im aktuellen Klima aufgeladen. Eine fehlerhafte Funkmeldung, ein riskantes Manöver – und die Lage kann kippen.
Kaliningrad als neuralgischer Punkt
Kaliningrad trennt Polen und Litauen und ist stark militarisiert. Für Moskau gilt die Exklave als Schlüssel für Zugänge zur Ostsee. Für die Nato ist der Suwalki-Korridor – die schmale Landbrücke zwischen Polen und Litauen – ein strategischer Schwachpunkt. Jede Ankündigung, Angriffe auf Kaliningrad abzuwehren, triggert auf beiden Seiten Planungen, die im Ernstfall in Minuten greifen müssen.
Die Eskalationsleiter – und was sie für Deutschland bedeutet
Deutschland steht an mehreren Fronten gleichzeitig: Abschreckung in der Ostsee, Schutz der eigenen Infrastruktur, Unterstützung der Ukraine und Reduzierung von Eskalationsrisiken. Das verlangt Entscheidungen in Echtzeit. Gleichzeitig muss die politische Führung die Bevölkerung mitnehmen, ohne Alarmismus.
Handlungsfähigkeit zeigt sich in ruhiger Vorbereitung: Reaktionszeiten senken, Verfahren üben, Partner eng binden – und transparent kommunizieren.
Realistisch ist ein langes Ringen unterhalb der Schwelle eines offenen Krieges. Je länger diese Phase andauert, desto wichtiger werden Resilienz und Routine. Behörden müssen Drohnenmeldungen zuverlässig triagieren, Falschalarme filtern, echte Bedrohungen priorisieren. Die Bundeswehr hält Alarmrotten bereit, die binnen Minuten in die Luft gehen, wenn ein Flugkörper ohne Kennung in sensiblen Sektoren auftaucht.
Wie eine Abfangkette abläuft
- Identifikation am Radar, Abgleich mit Flugplänen und Transponderdaten.
- Alarmstart von Abfangjägern, Herstellung visueller Sicht und Funkkontakt.
- Begleitung, Anweisung zur Kursänderung oder Landung.
- Bei Gefahr: Stufenplan von Warnmanövern bis zur Waffengewalt.
- Dokumentation und diplomatische Nachbereitung.
Worauf es jetzt praktisch ankommt
Drei Faktoren entscheiden über die nächsten Monate: das Tempo forensischer Aufklärung, die Glaubwürdigkeit von Abschreckung und die Fähigkeit, Zwischenfälle politisch zu deeskalieren. Moskau testet Grenzen – juristisch, technologisch, psychologisch. Europa muss Antworten geben, die das Risiko senken, nicht erhöhen.
Für Bürgerinnen und Bürger bleibt die direkte Gefahr begrenzt, doch die Lage fordert Aufmerksamkeit. Übungen können häufiger werden, zeitweilige Luftraumsperrungen ebenso. Medienkompetenz hilft, zwischen verlässlichen Meldungen und aufgeladenen Gerüchten zu unterscheiden. Wer die Begriffe kennt – von ADIZ bis Graubereich –, versteht die Schlagzeilen besser.








