„Empathie hört auf, wenn das erste Mal in deinen Hauseingang gekackt wird“

„Empathie hört auf, wenn das erste Mal in deinen Hauseingang gekackt wird“

Wer täglich neben vollen Mülleimern frühstückt, stellt neue Fragen an Politik, Polizei und Nachbarschaft.

Der Berliner Leopoldplatz steht beispielhaft für das Ringen um Regeln im öffentlichen Raum. Die Debatte ist emotional, aber sie entzündet sich an sehr konkreten Alltagsszenen.

Wenn der öffentliche Raum kippt

Am Leopoldplatz in Berlin-Wedding beschreiben viele Anwohner ihren Kiez als Unsicherheitszone. Offener Konsum, Vermüllung, aggressive Ansprachen, Schamgrenzen, die bröckeln. Wer im Erdgeschoss wohnt, erlebt den Straßenrand als Verlängerung des Wohnzimmers – ohne Tür. Genau hier verschiebt sich die Gefühlslage: Verständnis für Not und Armut kollidiert mit Ekel, Angst und Wut.

Am Leopoldplatz empfinden viele den Alltag nicht mehr als urban lebendig, sondern als unberechenbar – das verändert Verhalten, Routen und Routinen.

Sven Dittrich, Anwohner und Vorsitzender der Initiative „Wir am Leo“, bündelt diese Klagen seit Jahren. Viele fordern eine sichtbare und verlässliche Präsenz von Ordnungskräften sowie niedrigschwellige soziale Angebote. Die Frage lautet nicht mehr, ob ein Problem existiert, sondern wie schnell man seine Folgen lindert.

Die neue „Stadtbild“-Debatte

Kanzler Merz hat im Kontext der Migration das „Stadtbild“ aufgerufen. Die Formulierung triggert: Für die einen klingt sie nach Fassadenpflege, für andere nach längst fälliger Klarheit. Migration, Suchterkrankungen, Wohnungslosigkeit, Jugendgruppen ohne Perspektive – all das bündelt sich im öffentlichen Raum. Wer nur an schöneren Parkbänken arbeitet, scheitert. Wer nur über Strukturfragen redet, ohne den Platz aufzuräumen, ebenfalls.

Die Debatte über das Stadtbild trifft einen Nerv, weil sie endlich Ordnung und Hilfe gemeinsam denken muss – nicht nacheinander, sondern parallel.

Der Leopoldplatz taugt deshalb als Testfeld. Was gelingt, wenn Zuständigkeiten ineinandergreifen? Was scheitert, wenn eine Stelle ausfällt? Zwischen Sozialamt, Gesundheitsamt, Polizei, Stadtreinigung und Bezirk entstehen Reibungsverluste. Sie erzeugen für Anwohner das Gefühl, niemand fühle sich verantwortlich.

Was Anwohner konkret schildern

Alltagsstress statt Großereignis

Es geht weniger um spektakuläre Vorfälle, sondern um Dauerdruck: nächtliche Lautstärke, Scherben im Hof, Uringeruch im Treppenhaus, Menschen, die in Nischen schlafen. Das schafft Distanz. Kinder lernen, weiträumig auszuweichen. Ältere gehen früher heim. Der Platz verliert Funktionen, die er eigentlich bieten sollte: Aufenthalt, Begegnung, Durchgang.

Schnelle Hebel, die wirken können

Was hilft kurzfristig? Erfahrung aus anderen Brennpunkten zeigt: Es braucht gleichzeitig Sauberkeit, Präsenz, Ansprache – und eine Tür, die sich hinter Hilfesuchenden schließt, nicht vor ihnen.

  • Planbare Präsenz: Feste Zeiten für Polizei und Ordnungsamt, sichtbar und ansprechbar.
  • Sauberkeitstakt: Frühe und späte Reinigung, Wochenenden inklusive, plus mehr Toiletten.
  • Streetwork im Duo: Sozialarbeiter und Szenekenner sprechen an, vermitteln, deeskalieren.
  • Schutzräume: Tagesaufenthalte und Notübernachtungen nah am Platz, mit Aufsicht.
  • Hauszugänge sichern: Beleuchtung, Türsensoren, Kameras im Rahmen des Rechts.
  • Ruhezonen definieren: Klare Regeln für Sitzflächen und Spielbereiche mit sanfter Abtrennung.

Längerfristig zählen Verbindlichkeit und Daten

Die Stimmung kippt, wenn Maßnahmen versanden. Deshalb braucht es Zielzahlen, Evaluation und Budgets, die nicht nach drei Monaten enden. Eine Koordinierungsstelle, die wöchentlich Lagebilder erstellt, kann Prioritäten setzen. Beschwerden sollten in ein zentrales System laufen, das Rückmeldung gibt – „gesehen“, „in Arbeit“, „erledigt“. So entsteht Vertrauen.

Hilfreich wirkt auch ein Platzrat aus Anwohnern, Gewerbe, Schulen, Gemeinden, Trägern. Er legt Regeln fest, trägt Konflikte aus, benennt Engstellen. Wenn sich Zuständige kennen, entstehen kurze Wege. Und die Nachbarschaft spürt, wer bei Problemen ansprechbar bleibt.

Empathie hat Grenzen – Regeln auch

Der Satz „Empathie hört auf, wenn das erste Mal in deinen Hauseingang gekackt wird“ markiert eine Schwelle. Er beschreibt kein politisches Programm, sondern ein Körpergefühl, das Alltag überschreibt. Wer beruflich helfen will, muss diese Schwelle ernst nehmen. Wer Ordnung durchsetzen will, muss Alternativen schaffen, damit Verbote greifen, ohne Menschen zu verdrängen, die keine Optionen haben.

Für den Leopoldplatz heißt das: Toiletten müssen funktionieren, Plätze sauber bleiben, Regeln gelten. Gleichzeitig brauchen Abhängige Anlaufstellen, sonst weichen sie in Nischen aus. Wo beides fehlt, gewinnt Zynismus. Wo beides zusammenkommt, wachsen wieder Grenzlinien, die alle akzeptieren können.

Wie man das Wir-Gefühl zurückholt

Kleine Rituale, große Wirkung

Wochenmarktstände, Schulwegepatenschaften, offene Hofcafés am Samstagvormittag – solche Routinen erzeugen Augen und Ohren am Platz. Sie machen die Umgebung weniger anonym. Gewerbe kann mitziehen: Kioske, Bäckereien und Spätis sind Sensoren. Ein kurzer Draht zur Koordinierungsstelle lohnt sich.

Auch Gestaltungsdetails wirken: klare Sichtachsen, robuste Sitzmöbel, warme Beleuchtung, weniger Winkel. Wer plant, sollte sich abends vor Ort hinstellen, nicht nur tagsüber. Der Blick bei Regen, in der Dämmerung, nach der letzten U-Bahn zeigt, wo es klemmt.

Risiken, die man benennen muss

Harte Verdrängung verschiebt Szenen in Nebenstraßen. Das erzeugt neue Konflikte. Reine Symbolpolitik – etwa neue Schilder ohne Vollzug – frisst Vertrauen. Und Einzelaktionen verpuffen, wenn sie nicht in ein System eingebettet sind. Deshalb zählen Absprachen: Wer macht was, bis wann, mit welchem Ergebnis?

Was für den Leopoldplatz konkret geprüft werden könnte

Um die Diskussion zu erden, bieten sich drei Bausteine für einen sechsmonatigen Test an.

Baustein Ziel Messpunkt
Reinigungs- und Toilettenoffensive Gerüche und Verunreinigungen spürbar senken Beschwerdefälle pro Woche
Präsenzkorridor (16–22 Uhr) Subjektive Sicherheit erhöhen Befragungen vor Ort
Streetwork-Hub am Platz Konflikte früh binden, Wege in Hilfe öffnen Vermittlungen in Angebote

Kontext zur politischen Debatte

Wenn die Regierung das „Stadtbild“ adressiert, muss sie erklären, was das praktisch bedeutet: mehr Müllentsorgung, mehr Präsenz, mehr Hilfe, klarere Regeln – und woraus sich das finanziert. Migration spielt dabei eine Rolle, aber nicht als einzige Variable. Suchterkrankungen, psychische Krisen, Wohnungsnot und Lärmkonflikte prägen ebenso das Gefühl von Ordnung oder deren Abwesenheit.

Der Leopoldplatz zeigt, wie schnell abstrakte Schlagworte an Grenzen stoßen. Wer die Lage verbessern will, braucht Kennzahlen, die öffentlich sichtbar werden. Dann lässt sich streiten, ob es besser wurde – nicht nur lauter.

Weiterführende Hinweise für Betroffene

Wer im direkten Umfeld lebt, kann mit einfachen Schritten Wirkung erzeugen: Probleme dokumentieren, Zeit und Ort notieren, wiederkehrende Muster erkennen. Das hilft Behörden, Einsätze zu planen. Hauseingänge lassen sich mit Licht, Türschließern und klaren Hinweisen schützen. Gemeinschaftstermine mit Hausverwaltung und Nachbarn schaffen Rückhalt, falls es zu Eskalationen kommt.

Für Gewerbetreibende lohnt ein Notfallplan: Wen rufe ich an? Welche Situationen dulde ich, welche nicht? Welche Alternativen biete ich an, bevor ich die Polizei hole? Klare, freundlich bestimmte Kommunikation senkt die Temperatur. So wächst die Chance, dass Empathie nicht endet – selbst dann, wenn die Geduld hart geprüft wird.

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